DER BARTGEIER IN DER BAYERISCHEN WILDNIS-SIMULATION GEGEN KLIMA UND ANTHROPOZÄN
SIMULATION CONTRA WIRKLICHKEIT

Seit Juni 2021 verdichtet der Verein Landesbund für Vogelschutz (LBV) das Vorkommen des Bartgeiers im Alpenbogen unnatürlich und setzt importierte Vögel aus der Voliere provokant im Zentrum dreier sich überschneidender, besetzter Steinadlerreviere bei Berchtesgaden aus (bildlich kann man sich dies gut als Venn-Diagramm mit drei Mengen vorstellen). Im besten Fall dreht sich im Nationalpark (NLP) Berchtesgaden das Personalkarussell, was als Arbeitsplatzschaffung sinnvoll ist. Auch ein Beherbergungsbetrieb vor Ort könnte zukünftig profitieren. Sinnvoller Artenschutz ist es leider nicht.
Ein desinteressierter Regierungsdirektor hat auf meine zugestellten großen Bedenken zur Genehmigung höflich mit Phrasen geantwortet. Man verlässt sich derzeit gedanken- und bedenkenlos auf die Initiatoren dieses Projekts, die eigennützig nicht über den Tellerrand blicken. Billigend nimmt der LBV die Kollision von Ideologie und Realität in Kauf und haftet sicher vollumfänglich bei verursachten und nachgewiesenen Personen- und Sachschäden.

Völlig ignoriert hat man am bayerischen Aussetzungsort der großen Segler die ständigen starken Turbulenzen. Solange bei der Gebirgsjagd zwischen Ljubljana und Nizza bleihaltige Munition verwendet wird, deren Partikel der Geier mit zurückgelassenen Eingeweiden erlegter Schalenwildarten aufnimmt und bis zur Vergiftung im Körper anreichert, ist die Ansiedlung des Vogels respektlose Tierquälerei. Auch erkenne ich weder Notwendigkeit noch Sinn, in den kommenden Jahren Dutzende riesige fliegende Fleischfresser, die nicht nur auf blutige Knochen, sondern auch auf die Modefarbe Rot reagieren, in einer bayerischen Tourismusregion auszusetzen. Die historischen Angriffe des Bartgeiers auf Menschen und Weidevieh jeder Größe sind Märchen im Sinne einer Mär. Es sind überlieferte Ereignisse vergangener Generationen, die den Lebensraum alternativlos mit großen Fleischfressern geteilt haben. Durch die geplante, unnatürlich hohe Zahl der Vögel in heute vielbesuchter, vielfältig genutzter Bergwelt schafft man ignorant die Rahmenbedingungen, die zu ernsthaften Konflikten führen müssen! Schwärmer, die sich nach Wildnis sehnen, könnten diese nicht ertragen wenn das Wilde draußen wirklich und roh nah an sie herantreten würde.

In den Alpen hatte der Bartgeier sein „Goldenes Zeitalter“ sicher während lange vergangener halbnomadischer Jägerkulturen, die saisonal (und zusätzlich zu großen „Beutegreifern“/“Raubtieren“) in der baumlosen Bergwelt mit charakteristischen Rasengesellschaften große Huftiere gejagt haben. Geschossen wird der Vogel, archäologisch nachweisbar, schon von prähistorischen Viehzüchtern im heutigen Süddeutschland. Eine gute Zeit hatte der Bartgeier sicher auch am Beginn der Neuzeit. Dieser Zeitraum war für Bergbauern durch Klimaabkühlung katastrophal.

Dem Hochgebirgsvogel (!) Bartgeier, der vermutlich selbst in seinen besten Zeiten im Himalaya und auch in den Westalpen (!) ein sehr seltener Brutvogel war, fehlt im modernen Bayern aus meist guten Gründen ganzjährig die natürliche und erreichbare Nahrung sowie der nötige Freiraum. Das ursprüngliche Ernährungsgefüge gibt es in Bayern seit Jahrhunderten nicht mehr. Die Lieferanten frischer Reste, Braunbär und Wolf, gibt es in der alpinen Stufe, im natürlichen baumlosen Jagdgebiet des großen Vogels, heute selbst im NLP nur noch sporadisch. Die Risse weniger Wölfe und einzelner Luchse in heute bewaldeten Tälern sind für den Geier nicht auffindbar. Der Steinadler, der in Oberbayern den schlechtesten Bruterfolg der Alpen hat, war nicht Wappenvogel der alten Feudalherren weil er zaghaft agiert. Ihm die Beute streitig zu machen endet für den größeren Geier mit schwersten Verletzungen.

Extremer Nahrungsmangel besteht auch durch gegenwärtige menschliche Eingriffe in der alpinen Zone. Durch oft sinnvolle Lawinenverbauung gibt es im Winter und Frühjahr in Oberbayern kaum apernde große Tierkadaver. Ob im winterlichen Bergwald verhungerte Rothirsche erkennbar und anzufliegen sind, ist fraglich. Zusätzlich schädigt das Unternehmen Bayerische Staatsforsten aus Bilanzzwängen auch die ehemals gesunden Bestände der Gams in deren Wintereinständen; laut historischen Quellen die Hauptbeute des Bartgeiers im Alpenraum. Dies ging schon so weit, dass im Voralpenrevier einer Staatsforstjagd mit zwei Dutzend geladenen Schützen mangels Wild kein einziger Schuss fiel. Im Nachhinein ungeeignete Pflanzungen gedeihen dort prächtig und unverbissen ehe sie verdorren. Durch sehr sinnvollen Grundwasserschutz ist der Almbauer im Alpenbogen heute verpflichtet, durch Absturz oder Blitzschlag verendetes großes Weidevieh von der sommerlichen Alm / Alp(e) zu entfernen. Schlachtabfälle gibt es hier oben ebenfalls nicht mehr in großen Mengen.

Der LBV plant, die in Bayern ausgesetzten, mit Freiheit oft überforderten Voliere-Vögel mit nicht vermarktbaren Resten aus Gefrierkammern zu füttern. Eine vielfach bizarre Vorstellung. Die alten Schindanger wurden im 19. Jahrhundert aus hygienischen Überlegungen aufgegeben. Die Verbreitung von Pathogenen und Leichengiften an Schnabel, Krallen und Gefieder des Geiers bzw. Einbringung in bejagte Herden von Mutterschafen mit Lämmern ist widersinnig. Sein alter Name „Lämmergeier“ verweist auf die Tötung neugeborener, leichter Lämmer und Kitze während der Jungenaufzucht, da der Proteinbedarf der Jungvögel beträchtlich ist. In einen asiatischen Hochgebirgshorst eingetragene junge Ziegen wurden in den 1930er Jahren fotografisch dokumentiert. Eine historische Quelle aus dem Allgäu berichtet auch von einer abgestürzten Pferdeherde, die von einem Greif absichtlich in Panik versetzt wurde. Verursacht nicht von einem alten, dunkel gefärbten Steinadler, sondern von einem jungen, jahrelang dunkel gefärbten Bartgeier. Dieses typische Jagdverhalten zeigt der Bartgeier auch heute noch im Himalaya, wenn er versucht, schwer bepackte Maultiere auf schmalen Gebirgspfaden zum Absturz zu bringen.

Ein wackliger, bedrängter Tourist auf einem schmalen Grat, wie etwa auf der Watzmannüberschreitung oder auf dem Jubiläumsgrat oder während der Querung eines steilen, vereisten Schneefeldes, wird sich über den arttypischen Beutetest durch dichtes Anfliegen des riesigen Geiers vogelkundlich nicht erfreuen können. Für eine Seilschaft im steilen Fels ist das instinktive Verhalten des Vogels lediglich ärgerlich. Ganz anders ist dies bei einem konzentrierten, vertikalen Alleingang. Zusätzlich scheint es, dass das archaische Gehirn eines Bartgeiers blutrote Bekleidung und Ausrüstung, genauer die Farbtöne HKS 14 bis HKS 16, nicht von Blut unterschiedlicher Trocknungsstadien unterscheidet.

Es muss klar sein, dass man mit dem Bartgeier einen sehr großen Fleischfresser in die bayerischen Voralpen zwingt. Besonders den Werdenfelser Schafhaltern erweist man einen Bärendienst, nicht nur wegen der hervorragenden Thermik dieses Gebietes. Im Werdenfelser Land findet der Bartgeier viele unbehirtete Schafe vor und freiliegenden, verwitterten Hämatit – ein fast wasserunlösliches, ungiftiges Eisenoxid, welches der Vogel meines Erachtens besonders während der Brutzeit benötigt, um das Bakterienmilieu in seinem Gefieder und damit im Dunenkleid des Kükens günstig zu beeinflussen. Die Einbringung antimikrobieller Kristalle des Eisen(III)oxids von Hals- und Bauchgefieder des Geiers auf frische Beutereste im Nistbereich schwächt den metallischen Blutgeruch ab, verlangsamt die Fäulnis und verringert damit auch den Aasgeruch. Die Lufttemperatur an den historischen oberbayerischen Brutplätzen steigt seit 1890 und es setzt heute lange vor dem Flüggewerden des Jungvogels ein starker Fliegenmadenbefall an eingetragenen Beuteresten und unter unglücklichen Umständen am Nestling ein. Vermutlich liegen die historischen Brutplätze selbst in den kühleren Nordwänden für eine erfolgreiche Brut bereits heute 200 Höhenmeter zu tief. Viel Raum nach oben ist in den bayerischen Voralpen nicht.

Proteine und Fette sind das Benzin der Wildnis. Wie wild und unkontrolliert darf ein großes Wildtier heute in dieser simulierten Wildnis sein, bis es katalogisiert und ausgestopft im Museum verstaubt? Im Kulturland Bayern, wo es seit Jahrhunderten keine menschenleeren Räume mehr gibt, heute jedoch sehr viel Tourismus, Seilbahnkabel und sogar kreischende Kameradrohnen in kommerzialisierter Bergwelt mit ständig neuen Routen- und Tourenvorschlägen bis in die letzten, ehemals stillen Winkel. Selbst der Luftraum wird heute von wagemutigen Abenteurern genutzt. Der LBV zwängt den imposanten Bartgeier, dessen durchschnittliche Spannweite ca. 2,70 Meter ist, in einen ungeeigneten Lebensraum, in dem er sich seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr konfliktlos und selbständig ernähren kann. Die erzwungene Ansiedlung des riesigen Vogels auch noch in Bayern, obwohl hunderte Replikate des ausgerotteten Vogels seit mehr als 30 Jahren im Gebirge Österreichs und der Schweiz ausgesetzt werden, dort gelegentlich auch erfolgreich brüten und sich in geeigneten Regionen natürlich und in geringer (!) Zahl ansiedeln, verursacht lediglich unnötiges Leid bei Wild- sowie Nutztier und im schlechtesten Fall bei Menschen.

Michel Gengler, Lohhof
26.04.2021, aktualisiert am 22.09.2021

Quellen: B. Berg, O. Berger-Tal, A. von den Driesch, DWD, G. Endres, T. Ewe, H. Hofmann, P. Hutter, A. Kaiser, KLIWA, J. Koch, H. Komischke, K. + N.M. Kompatscher, P. Mellars, C. Rahbeck, D.Schäfer, J. Tierney, H. Weber, R. White

RAUBVÖGEL – FLIEGENDE KINDERRÄUBER UND MENSCHENFRESSER IN DEN ALPEN?

von Michel Gengler, Vortrag für „Wildes Bayern e. V.“ am 16. Juni 2018

Bartgeier

In dem hervorragenden Buch des Kosmos-Verlages „Die Greifvögel“ der Autoren Dr. Theo Mebs und Dr. Daniel Schmidt steht in der Einleitung zu lesen: „Alte Darstellungen von Greifvögeln vermitteln oft das einseitige Bild der ’schädlichen Raubvögel‘, da sich Menschen früher von Adlern und Geiern tatsächlich bedroht sahen.“
Tatsächlich war die Existenz der Menschen in den Alpen früher von Adlern und Geiern bedroht – indirekt und direkt. Indirekt durch den nicht staatlich ausgeglichenen Verlust von Weidevieh. Direkt durch tatsächliche Angriffe auch auf Menschen.

Ich habe heute drei wie ich hoffe auch für Sie interessante Beispiele aus der Schweiz dabei.
In alten Archiven sind weitere Vorfälle zu finden.

Zwei Beispiele sind aus dem 18. Jahrhundert und ein Beispiel ist noch aus dem 19. Jahrhundert:
1763 Anna Zurbucher, fast dreijährig, Berner Oberland bei Habkern, Kanton Bern
1778 ein Hirtenknabe, Alter unbekannt, Silbernalp, Kanton Schwyz
1870 ein 14-jähringer Junge, bei Reichenbach, Kanton Bern

Was haben die drei ausgesuchten Fälle gemeinsam?
Nun, alle drei Vorfälle geschahen im Sommer in bergigem Gebiet. Welches wilde Tier hat damals den extremen Lebensraum der Berner und Glarner Alpen bejagt?
Der Mensch konnte dort im Sommer durch die Herstellung von Hartkäse und die spätsommerliche Lieferung von Jungvieh in die Täler existieren. Die Almidylle heutiger Tourismuskonzepte war noch lange nicht in Sicht. Es war ein Leben in großer Armut trotz schwerer Arbeit. Wer sich für den Existenzkampf der Almbauern dieser Zeit interessiert, sei besonders auf die sehr beeindruckenden Bücher „Fernerluft und Kaaswasser“ von Herrn Georg Jäger und „Die Floitenschlagstaude“ von Herrn Wilhelm Hofer verwiesen.

Die Vogelangriffe:
1. Fall
ein genaues Datum liegt vor: 12. Juli 1763; ein fast dreijähriges Mädchen wird von einem Greif verschleppt; dieses Mädchen war mit hoher Wahrscheinlichkeit zierlicher und damit deutlich leichter als ein heutiger dreijähriger Wonneproppen und hatte vermutlich um 10 kg Körpergewicht
2. Fall
ein Hirtenbub, Alter unbekannt , wird 1778 auf der Silbernalp durch einen Greif getötet;
ich vermutete ebenfalls Sommer, da eine Beweidung nur in den Sommermonaten möglich ist;
das Geographische Lexikon der Gebrüder Attinger von 1902 bestätigte meine Vermutung: „hoch über dem Rossmatterthal am Osthang der Silbern gelegene Alpweide, die Ende Juni auf blos zwei Monate hinaus mit Schafen bestossen wird.“
3. Fall
der am besten dokumentiert ist; 2. Juni 1870, Angriff bei Reichenbach auf einer Almwiese auf einen 14-Jährigen mit kleiner jedoch kräftiger Statur.

Warum haben diese Angriffe alle im Sommer stattgefunden?
Bedingt durch eine starke Bevölkerungszunahme und Ausdehnung der schneefreien Bergweiden sind mehr Menschen im Jagdgebiet der Vögel präsent.
Die stärkste Motivation für ein Wildtier – außerhalb der Paarungszeit – ist die Gewinnung von ausreichend Nahrung. Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.

Warum wurde im Juni und Juli besonders viel Fleisch von den großen Vögeln benötigt?
Nun, in diesem Zeitraum ist der Nachwuchs flügge und der Nahrungsbedarf ist immens hoch.

Warum sind Angriffe in den Jahren 1763 bis 1870 leicht in der Literatur zu finden? Was ist in diesen knapp 100 Jahren geschehen? Was hat sich entscheidend verändert?
Von 1760 bis 1790 gab es auffällig lange sommerliche Niederschlagsperioden die die Vögel ausgehungert haben, da sie dann nicht starten. Für 1870 ist das Zurückweichen der Gletscher bekannt sowie ganzjährig wenig Niederschlag und kaum Schneeanhäufung in den Bergen. Dies könnte bedeuten, dass mangels Schnee kaum Lawinen abgegangen sind und dadurch keine tierischen Lawinenopfer aufzufinden waren.
In diesen Zeitraum fällt auch der Einsatz von Gewehren, die wesentlich einfacher abzufeuern waren. Durch bessere Gewehre wurden zuerst die Bestände der natürlichen Beutetiere der großen Vögel sehr stark verringert. Zusätzlich fällt in diesen Zeitraum in der Schweiz aber auch die starke Bejagung, Vergiftung – und letztendlich Ausrottung der drei großen Jäger Braunbär, Wolf und Luchs. Von den Beuteresten dieser drei begnadeten Jäger haben unsere gesuchten „Täter“ über Jahrhunderte profitiert.
Als Angriffsursache ausschließen können wir die Gewöhnung der Vögel an den regelmäßigen Verzehr von Menschenfleisch. Nahe Schlachtfelder gab es in diesem Zeitraum nicht. Ebenfalls auszuschließen ist die Prägung der Vögel durch Überlassung von Verstorbenen an bestimmten Plätzen; d.h. die archaische „Luftbestattung“ gab es in der Neuzeit im Alpenbogen nicht.

Details der Angriffe:
1. Fall
2. Juli 1763, Berner Oberland
ein fast dreijähriges Mädchen verschwindet und wird lebend und leicht verletzt wieder aufgefunden. Verletzt lediglich am linken Arm und an der Hand wo es anscheinend gepackt und weggeschleift worden war. „Schuhe, Strümpfe und Käppchen waren verloren“ – was auf einen wilden Ritt über das Hanggelände schließen lässt.
Hier vermute ich als Täter ein ausgewachsenes, großes Steinadlerweibchen welches das im Gras liegende Kind unter dem Strohhut des Vaters hervor gezerrt und hangabwärts geschleift hat. Ein großer Vogel fliegt am Fundplatz des Mädchens ab. Mit drei Jahren konnte das Mädchen sicher den Tathergang schildern – nachdem der Schreck überwunden war. Ob der Greif seinen „Fehlgriff“ los ließ, weil das Kind laut zu schreien begann, bleibt Spekulation.
2. Fall
Sommer 1778, Silbernalp, Kanton Schwyz, ein Hirtenknabe wird mit den Fängen von einer Felskante gezerrt oder evtl. mit den Schwingen hinuntergeprügelt, wie es erfahrene Steinadler mit Gemsen tun. Andere Sennen sind Zeuge wie der große Greif das getötete Absturzopfer anfrisst. Allerdings gibt es außer dem Steinadler eine weitere Vogelart, die durch den beabsichtigten Einsatz der Flügel als Prügel mögliche Beute aus Felswänden zum Absturz bringen versucht. Womit wir beim 3. Fall sind.
3. Fall
4. Juni 1870 bei Reichenbach, Kanton Bern, ein 14-Jähriger wird auf einer Almwiese – ohne Absturzgefahr – Opfer eines massiven Angriffs durch einen großen Vogel.
Der Vogel setzt seine kräftigen Flügel ein, mit denen er von hinten kommend, kräftig nach dem Kopf des Buben schlägt „als würde man Sensen zusammenschlagen“. Dann versucht der Vogel den Knaben mit den Fängen am Boden zu halten und bearbeitet ihn mit „wuchtigen Schnabelhieben“, die bis auf den Schädelknochen eindringen.
Dies klingt nach einem sehr entschlossenen Steinadler (wie auch der Vorfall im August 1886 am Hohen Ifen in den Allgäuer Alpen, westlich des Kleinwalsertales). Hier die detaillierte Beschreibung des Täters durch den überfallenen Johann Betschen, der den Angreifer mit Faustschlägen abwehren konnte und auch nicht an einer Infektion verstarb:
– ein fürchterlich gekrümmter Schnabel
– Flügel mit weißen Flecken
– ein Ring um den Hals
– ein wüstes Gestrüpp am Schnabel

Hier fällt uns natürlich sofort auf, dass diese Beschreibung nicht auf den Steinadler passt.
Es klingt nach einem Alp-Traum! Es klingt nach Halluzinationen. Ein Ring um den Hals? Ein wüstes Gestrüpp am Schnabel? Hat der Knabe auf der Almweide etwa spitzkegelige Pilze konsumiert und ist gestürzt? Sind die Geschichten der Älpler über menschenfressende Greife doch frei erfunden oder das Ergebnis von Rauschzuständen?
Keineswegs. Es gibt diesen Vogel. Es ist ein in den Alpen (wieder) heimischer Vogel.
Der 14-jährige Johann Betschen wurde von einem alten Bartgeier angegriffen. Die Bedrohung der Älpler erfolgte also durch zwei Arten die offensichtlich häufig verwechselt wurden: der Steinadler und der Bartgeier.

Wie kam es zu diesen Verwechslungen?
Den Begriff „Geier“ gibt es nur im deutschen Sprachraum. „Geier“ ist auch heute noch umgangssprachlich die Benennung für jeden Greif, für jeden großen Vogel mit Hakenschnabel.
Der Bartgeier der „Lämmergeier“ genannt wurde und in manchen Sprachen heute noch so heißt, schleift keine großen Lämmer oder Kinder weg, da seine Fänge zu schwach sind. Der „Lämmergeier“ der tatsächlich Lämmer und Kitze greift ist der Steinadler. Beide setzen jedoch die Flügel ein um Gemsen in Steilwänden zum Absturz zu bringen. Die Verwechslung der Arten in den Alpen liegt daran, dass der junge Bartgeier jahrelang ein dunkles Gefieder trägt, welches ihn dem alten, dunkel gefärbten Steinadler sehr ähnlich macht. Auch erscheinen die Schwingen des jungen Bartgeiers breiter, ähnlich denen des alten Steinadlers. Auch sind Größe und Flugbild ähnlich, jedoch hat der Bartgeier eine deutlich größere Spannweite, was auf große Distanz jedoch schwer zu unterscheiden ist. Mit Grimmer, Hosenaar, Jochgeier, Gemsengeier, Gemsenadler und Lämmergeier wurden damals beide Arten benannt.

Müssen wir nach der Wiederansiedlung des Bartgeiers in den Alpen und seiner Ausbreitung bei Bergtouren Angst um unser Leben haben?
Ja. Das müssen wir. Wir sind in den Bergen bedroht von: Lawinen, verdeckten Gletscherspalten, Eisschlag, Schneesturm, Bergrutsch, Steinschlag, Blitzschlag, Gewittersturzflut, Erschöpfung, Dehydrierung, brüchigen Pfaden und brüchigen Routen.
Die Gefahr von einem Steinadler oder Bartgeier angegriffen zu werden halte ich derzeit – bedingt durch ein großes Nahrungsangebot bestehend auch aus wilden Huftieren – für sehr gering.
Meine Erfahrung als sommerlicher Bergläufer ist, dass der Mensch im Karwendel Tirols die Gamsbestände nicht wie in Oberbayern „minimiert“.
Die Gene sehr aggressiver Vögel haben wir vor langer Zeit vernichtet; damals leider auch alle anderen. Im Alpenbogen hüten Kinder heute auch nicht mehr das Vieh, sondern gehen stattdessen in die Schule.

In Bayern gab es den Bartgeier bei Benediktbeuren, Ettal, Hohenschwangau und bei Berchtesgaden. Die mutmaßlichen Bruthöhlen gibt es noch heute. Unter gewissen Bedingungen ist es dem Bartgeier möglich in seiner Felsenhöhle das Licht einzuschalten. Bei geeignetem Raumklima der Bruthöhle, geeigneter Ausrichtung und Nutzung des Brutplatzes über einen langen Zeitraum kommt es vermutlich durch chemische Vorgänge an Beuteresten und Vogelkot zu einem bei einsetzender Dunkelheit deutlich erkennbaren, nicht flackernden Lichtschein. Ob das Milieu des Brutplatzes den Bartgeier veranlasst eisenoxidhaltige Suhlen aufzusuchen ist hiermit zur Diskussion gestellt. Sicher ist, dass die Farbe Rot eine sehr große Anziehungskraft auf den Vogel hat.
Für Hirten und Jäger der Vergangenheit war die überwältigende Größe des Vogels und sein auffälliges Verhalten nicht nur bemerkenswert, sondern vermutlich äußerst verstörend. Bemerkenswert ist, dass heute bei manchen alpenländischen Perchtenläufen deren kraftvoller Ursprung vermutlich der Wunsch nach Beeinflussung damals unkontrollierbarer Wildtiere und Naturgewalten war, seltene Schnabelmasken getragen werden, die einem Bartgeierkopf sehr ähnlich sind.
Bei weiterer Ausbreitung des Bartgeiers könnte er auch wieder als Brutvogel ins wilde Bayern zurückkehren. Im Allgäu, im größten Almgebiet Bayerns, taucht der Bartgeier gelegentlich schon als (Be-)Sucher auf. Der Steinadler, sein Doppelgänger der alten Zeit, hält in Oberbayern die besten Reviere zwar besetzt, doch hat sich der Bartgeier durch die Spezialisierung auf große Knochenstücke eine Nahrungsquelle geschaffen, die ihm das Überleben sichern könnte. Eine Art Zonierung, wo verendetes Weidevieh vom Almbauern nicht entfernt werden muss, wäre von Vorteil. Landes- und EU-Gesetze ermöglichen dies derzeit noch nicht. Absichtliche, dauerhafte Futterstellen sind heikel, da man damit auch andere Aasfresser an den Menschen gewöhnt.

Warum von diesen extremen Vorfällen berichten, wenn man sich für Wildtiere engagieren will?
Es gab Angriffe großer Wildtiere auf Menschen. Falls es durch besonders aggressive Einzeltiere wieder zu Attacken kommt und wir bekannte Belege zurückgehalten haben, sind wir unglaubwürdig. Um heute bei der Rückkehr imposanter Wildtiere richtig agieren und reagieren zu können, muss man die Gründe der Angriffe, die Zusammenhänge kennen.
Die historischen Angriffe von Steinadler und Bartgeier waren im stetigen Entzug von überlebens-wichtiger Nahrung begründet.  

Quellen:
Naumann, Girtanner, Schinz: Der Lämmergeier
Mebs, Schmidt: Die Greifvögel Europas, Nordafrikas und Vorderasiens
Pfister: Das Klima der Schweiz 1525 – 1860
France-Harrar: Mikroorganismen
Berg: Der Lämmergeier im Himalaja
Golowin, Hofmann: Pilze
Peter, Filser: Alpendämonen
Fotos: Gengler